Blutiger Nebel _ von Lesung vor acht *Instagram

O misera sors hominis, cum hos perdidit ad quod factus est. O durus et dirus casus ille! Heu, quid perdidit et quid invenit, quid abscessit et quid remansit!

O elendes Los des Menschen, weil er das verloren hat, wozu er geschaffen wurde. O jener harte und schreckliche Unglücksfall! Wehe, was hat er verloren und was hat er gefunden, was ist entschwunden und was geblieben?

- Anselm von Canterbury, Proslogion

Blutige Nebelschwaden umhüllten die Schule, als der Mann vor der Eingangstür zusammenbrach. Er trug einen nassen schwarzen Mantel und zitterte vor Kälte und Schmerzen. Als ich auf ihn zuging, erblickte ich schneeweiße Haare und ein Gesicht, das vorzeitig gealtert war.
Ich kannte den Mann nicht, aber ich konnte ihn nicht einfach liegen lassen. Eigentlich war der Unterricht schon längst vorbei und ich hatte längst nach Hause gehen wollen. All meine Freunde waren schon längst verschwunden, selbst der schweigsame Junge in der letzten Reihe, der auch immer länger blieb. Doch ein unbestimmtes Gefühl brachte mich dazu, unruhig durch die verlassenen Gänge zu wandern und ihre unerträglich kalten Wände zu mustern. Immerhin war ich so nicht gezwungen, den grausamen Nebel anzusehen.
Als Schulsprecherin besaß ich einen Schlüssel zum Krankenzimmer. Es dauerte eine Weile, bis ich den Mann dorthin gebracht hatte. Obwohl ich ihn stützte, schien ihm jeder einzelne Schritt unerträgliche Qualen zu bereiten. Als ich ihn auf das Bett gleiten ließ, seufzten wir beide erleichtert auf.»Träume ich?«, murmelte der Mann und ein schwaches Lächeln huschte über sein blasses Gesicht. »Bist du ein Geist? Ein Engel?«
»Ein Mensch«, erwiderte ich und lachte verlegen. »Nur ein Mensch.«
»Ein Mensch«, murmelte er mit nachdenklicher Stimme.
Ich fragte ihn, ob er verletzt sei, ob ich einen Rettungswagen rufen solle. Er winkte ab und rieb sich die Schläfen.
»Es ist der Nebel«, erklärte er. »Der Nebel raubt mir die Sinne. Geht es dir auch so? Nein? Nun, man muss sich nur ein wenig ausruhen. In der Regel verfliegt es dann so schnell, wie es gekommen ist.«
Ich nickte, konnte aber den gequälten Ausdruck seiner Miene nicht übersehen. Ich konnte ihn nicht einfach zurücklassen. Also ließ ich mich auf einen Stuhl sinken und begann ein Gespräch, um ihn von seinen Schmerzen abzulenken. Ich fragte ihn, woher er stamme.
»Von weit, weit her«, entgegnete er. »Eigentlich bin ich hier zur Schule gegangen.«
Ich wollte nicht unhöflich sein und fragte nicht nach seinem Alter.
»Was hast du da draußen gemacht?«, wunderte ich mich stattdessen.
Ein Finger des Mannes zuckte und einen Augenblick lang wirkte er merkwürdig verändert. Ein unaussprechlicher Schatten glitt über sein fahles Gesicht und furchte seine zerknitterte Haut. Dann verschwand der Ausdruck und sein gequältes Lächeln kehrte zurück.
»Ich wollte einfach nur nach draußen gehen. Das hört sich seltsam an, nicht wahr? Ich wollte nicht nach Hause, weil mich Furcht quälte und wanderte stattdessen in den Nebel. Irgendwann verschwamm meine Umgebung zu einer unkenntlichen, chaotischen Sphäre, in der es weder Ordnung noch Raum zu geben schien …« Kurz glitt sein Blick in weite Ferne, bevor er schluckte und leicht den Kopf schüttelte. »Kannst du dir vorstellen, in einem formlosen Nichts umherzuwandern? So in etwa war es.« Er schloss die Augen und ich straffte mich. Mich erfüllte die unbestimmte Vorahnung, dass eine grauenerregende Enthüllung kurz bevorstand.
»Dann begegnete ich einer Person. Sie erschien plötzlich aus den Nebelschwaden. Ich konnte nicht erkennen, woher sie kam. Ich sah sie an, suchte nach Augen, nach einer Nase, nach einer bekannten Form … aber da war kein Gesicht. Ich wollte weglaufen, aber stattdessen stand ich wie festgefroren und blickte in dieses leere, widernatürliche Gesicht … und dann, ohne Vorwarnung, stürmte der Nebel auf mich zu … ja, er stürmte auf mich zu! Er drang mir in Nasen und Ohren, in Augen und Mund und plötzlich verschmolz ich mit dem Nebel … und während in mir die kräftigen, ungetrübten Schläge meines Herzens unvermindert andauerten, fühlte ich mein eigenes Gesicht langsam verschwinden und mich in eine unendliche Leere stürzen, in der weder Verstand noch Ordnung existiert …«
Seinen Worten folgte eine allumfassende, erdrückende Stille. Ich wagte nichts zu sagen.
Stattdessen richtete ich meine Augen auf die Blumenvase auf der Fensterbank. Die Blüte wirkte krank und welk, obwohl sie in festem Leben stand.
»Ist das nicht sonderbar?«, murmelte der Mann. »Ich muss stundenlang umhergeirrt sein, aber ich bin vor der Schule zusammengebrochen. Ausgerechnet hier.«
Er sah mich an, als ob er eine Antwort erwartete. Ich blieb sie ihm schuldig.
Wir verharrten noch eine Weile schweigend, dann erhob er sich und lächelte mich gequält an. Er sagte, er müsse nach Hause gehen. Ich begleitete ihn bis zur Tür. Er reichte mir seine Hand. Ich hielt sie eine Sekunde länger als nötig. Als die zitternden Umrisse seines feuchtnassen Mantels im blutigen Nebel verschwanden, schloss ich die Augen, um meine Tränen zurückzuhalten. Ich hatte ihn erkannt. Er war der schweigsame Junge aus der letzten Reihe, der an diesem Nachmittag nun schon zum zweiten Mal die Schule verließ.

Tristan Ritters letzte Reise (Tristan Ritters letzte Reise – Bessassins Blog)

Da stieß Tristan das Schwert in den Stein und verkündete mit lauter Stimme: „Wenn es das ist, was Ihr von mir verlangt, meine Königin, so will ich nicht länger Euer Ritter sein.“
Die Königin musterte ihn mit kühlem Blick. „So sei es. Tötet ihn!“ Die Wachen eilten herbei.
„Auf ein Wort, Majestät.“ Die Hofzauberin Urielle trat zwischen den Kastanienbäumen hervor. „Was, wenn niemand das Schwert aus dem Stein ziehen kann? Es wäre für immer verloren.“
Die Königin gebot den Wachen Einhalt. Nachdenklich klopfte sie mit dem Zepter in ihre Hand. „Das ist wahr. Doch was nützt es mir in der Hand eines Unwilligen?“
Urielle verneigte sich. „Ihr werdet die richtige Entscheidung treffen, Majestät.“
Die Königin öffnete den Mund und sprach: „Angelika! Komm jetzt, Opa braucht noch einen Moment für sich.“
Angelika schlang die kleinen Ärmchen um meinen Hals. „Lies weiter, bitte“, flüsterte sie mir ins Ohr.
„Das geht nicht, mein Engelchen.“ Ich streichelte ihren Rücken. Mein Blick glitt über das gelbliche Papier, dass ich eigenhändig mit all diesen Buchstaben gefüllt hatte. „Ich weiß noch nicht, was die Königin sagt.“
Susanne nahm mir die Kleine vom Schoß, ignorierte ihren Protest und trug sie hinaus. „Tschüss, Opa!“, rief Angelika traurig und winkte. Ich winkte zurück.
Eine Schwester in blütenweißem Gewand kam herein. „Sind Sie dann so weit, Herr Ritter?“
„Geben Sie mir … noch ein paar Minuten, Fräulein, bitte.“ Ich schenkte ihr mein schönstes Lächeln. Sie erwiderte es, wenn auch gepresst und voll jugendlicher Ungeduld. „Nun gut, eine Viertelstunde noch. Sonst müssen Sie ein anderes Mal wiederkommen.“
Ich nickt eifrig und fasste den Bleistift fester. Es fehlten nur noch ein paar Zeilen. Wie entschied die Königin? Würde Tristan leben oder sterben? Und wenn er lebte, würde es ein gutes Leben sein? Der Herzmonitor piepte in immer kürzerer Folge. Meine Handflächen schwitzten. Ich musste eine Entscheidung treffen – leben oder sterben?
Leben …
Oder sterben.

„Wenn du noch nicht so weit bist, Papa, können wir sicher eine Lösung finden. Ich meine, Tradition hin oder her – zwingen können sie dich nicht.“


Susanne kam herein. Sie setzte sich neben das Bett auf einen Stuhl und nahm meine Hand. Ein trauriges Lächeln lag in ihrem Gesicht. „Wenn du noch nicht so weit bist, Papa, können wir sicher eine Lösung finden. Ich meine, Tradition hin oder her – zwingen können sie dich nicht.“
Energisch schüttelte ich den Kopf. „Nein, Liebes, ich verstehe euch ja – du und deine Brüder, ihr seid zu dritt und ich nur einer. So egoistisch bin ich nicht.“
Sie tätschelte meine Hand. „Ich bin froh, dass du es so siehst.“
Der Schmerz in meiner Brust brannte heißer.
„Kann ich dir noch etwas bringen?“
Der Herzmonitor piepte inzwischen sehr eindringlich. Sie ignorierte es.
„Nein, ich… ich würde nur gern diese Geschichte vollenden, bevor ich gehe.“ Sie nahm mir den Block aus der Hand und las. Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. „Sehr hübsch. Wie wäre es, wenn die Königin Gnade walten lässt? Wäre doch ein schönes Ende.“
„Ja, vielleicht.“ Ich rieb mir über die spröden Lippen. Auf der anderen Seite der bodenlangen Gardinen zwitscherte eine Schar Sperlinge in der sonnendurchfluteten Krone des Kastanienbaumes. „Aber realistisch ist es nicht.“
Susanne lächelte aufmunternd. „Nun, nun, alles in allem ist es doch eine gerechte Welt.“
Der Herzmonitor schlug Alarm. Die blütenweiße Schwester kam herein, scheuchte meine Tochter hinaus und prüfte das Gerät. Schließlich schaltete sie es ab. „Sie machen es sich unnötig schwer, wenn Sie es so lange vor sich herschieben.“ Mit ernster, strenger Miene fixierte Sie mich. „Sie müssen jetzt eine Entscheidung treffen, Herr Ritter. Gehen Sie jetzt oder machen Sie einen neuen Termin aus.“
Ich bekam keine Luft. Mein Herz fühlte sich noch immer wie im Schraubstock an. „Die Geschichte“, murmelte ich matt, „sie ist noch nicht zu Ende.“
Die Schwester nahm den Block vom Stuhl, wo Susanne ihn hinterlegt hatte und überflog die letzten Zeilen. „Ist doch ganz einfach. Sie lässt ihn hinrichten. Irgendeiner wird schon kommen, der das Schwert aus dem Stein ziehen kann. Es kommt immer ein neuer Ritter nach.“ Sie bemerkte die Ironie in ihren Worten und räusperte sich. „Nichts für ungut, Herr Ritter. Ich schreib’s Ihnen fix fertig, ja?“ Sie nahm den Bleistift und schickte sich an, den Satz zu beenden. „Nicht! Bitte … lassen Sie es einfach so. Ich …“ Ich atmete tief durch. „Ich bin so weit. Gehen wir.“

„Sobald Sie so weit sind, drücken Sie bitte hier auf den Knopf. Sie müssen den Becher nicht trinken, aber wir empfehlen es. Im Namen ihrer Angehörigen ein herzliches Vergelt’s Gott und einen sanften Übergang.“


Zufrieden löste sie die Bremse und schob das Bett hinaus. Ich drückte den Block fest an mich. Es gab noch so viele Abenteuer für Tristan zu erleben. Draußen auf dem Gang standen sie alle, Susanne, Gustav und Bernd. Und Angelika, mein Engelchen. Sie winkte mir noch einmal und barg dann das Gesichtchen in der Halsbeuge ihrer Mutter. Ich schluckte. Vergeblich, mein Mund fühlte sich wie ausgedörrt an. Die Schwester schob mich in einen kreisrunden, fensterlosen Raum. Die Dunkelheit erhellten nur zwei sanfte, gelbe Lampenkugeln. Eine andere Schwester brachte das Tablett. Sie schob es auf einem Wagen herein und stellte es in meine Reichweite.
„Sobald Sie so weit sind, drücken Sie bitte hier auf den Knopf. Sie müssen den Becher nicht trinken, aber wir empfehlen es. Im Namen ihrer Angehörigen ein herzliches Vergelt’s Gott und einen sanften Übergang.“
Ich nickte schwach. Als die beiden Frauen den Raum verlassen hatten, sah ich noch einmal auf meinen Text. In der Dunkelheit konnte ich die Buchstaben kaum erkennen. Jetzt war es ohnehin zu spät. Ich würde nicht erfahren, welches Urteil die Königin fällte. Mit zitternden Fingern nahm ich den Becher zur Hand. Sie sagten, man spüre nichts, wenn man ihn trank. Man schliefe einfach ein. Trank man ihn nicht, dauerte es länger, doch war man bis zum Schluss Herr seiner Sinne.
Da stieß ich den Becher vom Tablett und verkündete mit lauter Stimme: „Wenn es das ist, was ihr von mir verlangt, meine Kinder, so will ich nicht länger eure Bürde sein.“
Ich drückte den Knopf. Ein Zischen kündigte den vom Boden aufsteigenden Nebel an. Die Finger in die Bettdecke gegraben, starrte ich die beiden Lichtkugeln über mir an. Langsam verschwammen sie zu der schönen und schrecklichen Gestalt der Königin. Lähmende Schwere kroch in meine Glieder. Ich fürchtete mich so sehr und wusste doch, dass mir keine Wahl blieb.
„Du hast mir treu gedient, mein Ritter.“ Sanft strich die Königin über mein Kinn. „Deshalb gewähre ich dir einen letzten Wunsch.“ Sie hob den Block von meiner Brust und führte meine Hand mit dem Bleistift, der so schwer in meinen Fingern lag, als sei er wahrhaftig von Blei.

Die Königin öffnete den Mund und sprach: „Ritter Tristan, das Schwert habt Ihr nur geliehen, und durch Eure Tat ist es nun unbrauchbar geworden. Nun denn, Euch sei vergeben.“ Sie winkte den Wachen. „Tötet ihn, aber das Mädchen soll leben, wie es sein Wunsch war.“
Die Wachen erschlugen den Ritter, das Kind aber, das zu opfern er sich geweigert hatte, lebte. Es wuchs zu einer stattlichen Ritterin heran und vollbrachte viele Heldentaten. Manchmal dachte es an den Ritter und sein Geschenk zurück. Als es schließlich das Schwert aus dem Stein zog, lächelte die Königin.

Ich lachte leise. Mit dieser Wendung hatte ich nicht gerechnet. Block und Stift entglitten meinen Fingern. Der Nebel erfüllte inzwischen den ganzen Raum. Ich fühlte mich zu müde, um noch zu atmen.

***

„Kann Opa mir heute Abend wieder vorlesen?“, fragte Angelika.
Susanne wischte sich eine Träne von der Wange. „Leider nicht, mein Schatz.“
Die Schwester kam aus dem Zimmer. „Er ging mit einem Lächeln im Gesicht.“ Sie reichte Susanne den Block. „Um den Rest kümmern wir uns. Die Bestätigung für die Versorgungskasse können Sie an der Rezeption abholen. Einen schönen Tag noch.“
Angelika nahm den Block und drückte ihn fest an sich. Sie würde die Abenteuer des Ritters Tristan noch viele Male gelesen haben, bis die Zeit kommen sollte, ihre Mutter erneut in das große weiße Gebäude unter den Kastanienbäumen zu begleiten.

Weizen, blauer Himmel und ein Kleeblatt

»Meinst du, mein Bett reicht aus für die beiden?«, fragte Samir und beäugte die nur einen Meter breite Schlafstatt skeptisch.
»Na klar, Yakov und Artjom sind doch ein Paar. Ist ja nicht wie bei uns. Bringt bestimmt Leben in die Bude«, sagte Azis mit einem Augenzwinkern.
Der junge Syrer schenkte dem Deutschtürken ein Lächeln. Vor sieben Jahren hatten die beiden sich über den Queer Refugee Support kennengelernt, als Samir dringend nach einer sicheren Bleibe gesucht hatte. Wo er keine Angst haben musste, wegen seiner Homosexualität angegriffen zu werden. Bei Azis hatte er sich sofort wohlgefühlt und ungewöhnlich schnell Vertrauen gefasst. Bald hatten sie sich angefreundet und so war aus der provisorischen Wohngemeinschaft eine dauerhafte geworden.
Angesichts des Krieges in der Ukraine hatten sie gemeinsam beschlossen, vorübergehend beide in Azis' Doppelbett zu schlafen und Samirs Zimmer für ein geflüchtetes Paar zur Verfügung zu stellen. Ein erstes Treffen auf neutralem Boden hatte ergeben, dass der russische Blogger und sein ukrainischer Freund gut zu ihnen beiden passten.
Samir holte seine Jacke vom Haken. »Okay. Dann lass uns losfahren.«

An der Flüchtlingsunterkunft in den Messehallen standen Artjom und Yakov wartend an der Straße und blickten suchend umher.
Azis stieg zuerst aus und winkte. »Hier sind wir! We are here!«
»Wie schön, euch zu sehen!«, antwortete Artjom auf Englisch. Für die wenigen Habseligkeiten, die sie bei sich hatten, war im Kofferraum mehr als genug Platz. Das ukrainisch-russische Paar quetschte sich auf die Rückbank, Azis setzte sich auf den Beifahrersitz und Samir hinters Steuer.
»Also Artjom, du bloggst, richtig? Machst du das beruflich oder ist das nur ein Hobby?« Für Samir brauchte Azis nicht zu übersetzen.
»Ein Hobby? Ich bekomme dafür kein Geld, ich kämpfe für die Freiheit! Ich übersetze englischsprachige Informationen aus dem Westen auf Russisch, damit meine Landsleute endlich begreifen, dass sie die ganze Zeit belogen werden. Dort werden überall im Fernsehen und in den Zeitungen Lügen erzählt über den Westen. TV Doschd ist verboten! Wer die Wahrheit sagt, kommt ins Gefängnis oder schlimmer noch ins Straflager und wird gefoltert wie Nawalny. Das dürfen die Leute sich nicht länger gefallen lassen und müssen sich endlich zur Wehr setzen. Menschen werden eingesperrt und gefoltert, nur weil sie eine andere Meinung haben als Putin!«
Beim Wort »Putin« zuckte Yakov zusammen. Artjom übersetzte für ihn, was er gesagt hatte. Yakov ballte die Faust. »Putin ist böse! Wie Hitler, nur zehnmal schlimmer!«
»So etwas darf nicht sein«, fuhr Artjom fort. »Deshalb muss ich berichten. Ich habe Glück gehabt, dass sie mich nicht gefunden haben, solange ich noch in Russland war. Oder ich bin zu unbedeutend, weil meine Reichweite zu gering ist. Aber ich mache weiter. Russland ist meine Heimat und ich will dort in Freiheit leben.«
Azis wandte sich wieder an Artjom. »Sprecht ihr beide miteinander eigentlich russisch oder ukrainisch? Ich kann das gar nicht unterscheiden.«
»Wir sprechen russisch. Yakov versteht kein Englisch und ich kein Ukrainisch.«
»Wir haben am Anfang nur Englisch miteinander gesprochen. Aber ich wollte unbedingt Deutsch lernen«, sagte Samir, »inzwischen studiere ich sogar Germanistik. Eines Tages werde ich Lehrer. Ich kann euch Deutsch beibringen, wenn ihr wollt.«
»Ich weiß nicht«, sagte Yakov. »Ich will nicht in Deutschland bleiben. Sobald es sicher ist, will ich wieder nach Hause. Sobald sich Putin mit Selenskyj am Verhandlungstisch geeinigt hat, wird auch der Krieg zu Ende sein. Der Westen ist viel mächtiger als Putin, das muss er doch einsehen. Die Sowjetzeiten sind vorbei.«
»Erst mal kommt ihr bei uns unter und vielleicht ist der Krieg nächste Woche schon wieder zu Ende.« Doch niemand in diesem Auto glaubte daran.

In der WG angekommen verstauten sie gemeinsam das Gepäck, Azis präsentierte das Gästezimmer und Samir stellte Getränke auf den Esstisch.
»Habt ihr beiden Hunger?«, fragte Azis. Azis hatte immer Hunger. Und als guter Gastgeber war er gerne bereit, das Baklava, das er selbst zubereitet hatte, mit ihnen zu teilen. Sie lehnten ab.
»Und du, Yakov, was machst du?«, wollte Samir wissen.
»Ich bin jetzt arbeitslos. Die Fabrik, in der ich gearbeitet habe, ist zerbombt worden. Wir haben Weizen gemahlen und in Tüten verpackt. Alles kaputt.«
»Und bei uns sind die Regale leer. Kein Mehl, keine Nudeln, kein Pflanzenöl. Schlimmer als zu Beginn der Corona-Pandemie«, warf Azis ein. »Wir haben aber genug Klopapier für alle.« Er war stolz auf sich, hatte er doch morgens um viertel vor sieben auf die Öffnung des Supermarkts gewartet, obwohl er normalerweise erst um zehn aufstand. Freundlich lächelte er die beiden an.
»Du hast Sorgen!« Artjom zog die Augenbrauen zusammen, dass sein Freund ihn mit großen Augen ansah. »Mehl kannst du auch woanders kaufen, im Ausland. Tote Verwandte nicht. Werden nicht wieder lebendig, meine ich.«
Unter Tränen zählte Yakov auf, wen er alles verloren hatte. Beschrieb, wie er im Keller gefroren und nicht gewusst hatte, ob er vor Kälte oder vor Angst zitterte.
Samir sah plötzlich wieder seinen Onkel tot neben sich im Dreck liegen, eine Blutlache unter sich. Er hörte die Schüsse von den Wänden widerhallen; starr vor Angst wagte er nicht, aufzustehen. Seine Mutter, geschändet und ermordet. Sein Vater, aufgehängt an einem Baum, seine jüngsten Brüder mit ihm in einer Reihe. Samir kamen die Tränen, wie er jetzt im reichen Deutschland an einem Tisch mit einem weißen geflüchteten Paar saß und sein Mitbewohner sich um fehlendes Mehl oder Klopapier sorgte. Sie hatten alles: Zu trinken, zu essen, sie spülten sogar ihre Scheiße mit Trinkwasser in die Kanalisation! Azis hatte Angst bei Gewitter, aber nie vor Angst zitternd in einem Keller gesessen und bei jeder Detonation gehofft, dass das Haus stehen blieb.
»Entschuldige bitte, Samir.«
»Entschuldige dich bei Yakov. Ich komme klar. Mir tut es leid, dass ich dir nie meine Geschichte erzählt habe.«
Artjom übersetzte leise und ruhig, was gesagt worden war, und Yakov sank in sich zusammen, drückte sich eng an seinen Freund.
Eine lange Pause entstand.
Leise und stockend fing dann Yakov an zu erzählen. Artjom war zufällig zu Besuch bei Yakov, als Putins Truppen in der Ukraine einfielen. Für den Russen war sofort klar, dass für ihn kein Weg zurückführte, sondern sie beide schleunigst dort wegmussten. Sie wollten gar nicht unbedingt nach Hamburg, aber in Lwiw hatte ein Hamburger Privatmann sie einfach in sein Auto geladen und sie waren froh, nicht länger frieren zu müssen. Der Mann sprach nur schlechtes Englisch und gar kein Russisch oder Ukrainisch, also redeten sie nicht viel und hofften auf das Beste.
Für den Moment waren Azis und Samir das Beste, das ihnen passieren konnte.

Abends legte Samir sich zu seinem Mitbewohner ins Bett und beide drehten sich den Rücken zu wie ein altes Ehepaar.
»Denkst du, die beiden werden sich bei uns wohlfühlen?«, fragte Azis.
»Sie werden sich überall wohler fühlen als da, wo Krieg ist.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Ich weiß. Aber sicher ist es hier auch besser als in der Unterkunft auf dem Messegelände, falls du das meintest.« Samir dachte an die Enge, die abgestandene Luft, die fehlende Privatsphäre. Und obendrein ständig die Angst, irgendjemand könnte herausfinden, dass er schwul war. Wie gut er es doch hier hatte. Er wäre schon dankbar gewesen, überhaupt mit dem Leben davongekommen zu sein.
»Gute Nacht, Hase.«
»Schlaf gut, Teddybär.«
Damit knipsten sie die Nachttischlampen aus. Samir dachte darüber nach, ob das wohl ausreichend wäre als Verdunkelungsmaßnahme und dass man sich darum gar keine Sorgen mehr machen musste, wenn erst der Strom ausgefallen war.

»Ich habe Angst«, flüsterte Yakov, als er mit Artjom in dem schmalen Bett lag.
»Ich weiß«, sagte Artjom und strich ihm beruhigend durchs Haar.
»Dass der Krieg auch hierher kommt.«
»Ich weiß.«
»Ich erinnere mich noch an unseren ersten Sommer im Weizenfeld unter blauem Himmel. Als du mir das Kleeblatt geschenkt hast. Wie waren wir glücklich. Ich liebe dich, Artjom.«
»Ich liebe dich auch, Yakov.«
Sie hielten sich eng umschlungen und küssten sich zärtlich.
»Warum können sich nicht alle Russen und Ukrainer lieben, so wie wir?«
»Ich weiß nicht.«
»Vielleicht stirbt Putin an Corona und dann wird alles gut.«
Artjom lachte. »Ja, vielleicht.« Die Hoffnung hatte er bei Trump auch gehabt. Und dann hatte das Volk gewählt und ein anderer war an die Macht gekommen.

Der Blogring _ Vorstellung von Antares oder das Gesicht mit dem Monokel

Ich bin der Mann hinter dem Gesicht mit dem Monokel: Alexander Hörl, zwanzig Jahre alt, Vorleser und Autor dunkler Literatur.

Wie bist du zum Schreiben gekommen?

Das Erzählen von Geschichten war schon immer meine Passion. Ich kann mich an keinen Lebensabschnitt erinnern, in der meine Fantasie für mich keine Rolle gespielt hätte. Sobald ich also einen Stift halten konnte, war für mich klar, dass ich von da an die Welt mit meinen Texten terrorisieren … äh … beglücken würde.

Was waren deine bisherigen Erfolge?

Mittlerweile habe ich schon an einigen Wettbewerben teilgenommen und konnte mir immer wieder Plätze in Anthologien sichern. Zusätzlich dazu durfte ich mit dem Österreichischen Jugendfilmverband einen Kurzfilm drehen und bin auch jetzt wieder an der Entwicklung eines neuen Projekts beteiligt. 2021 schließlich veröffentlichte ich meinen ersten Kurzroman auf story.one. Dazu kommen noch viele weitere Projekte, die noch im Schatten meines Bewusstseins lauern …

Was willst du schreiberisch noch erreichen?

So viel wie möglich. Das Schöne und zugleich Furchterregende an Ehrgeiz besteht darin, dass er nie ganz befriedigt ist. Ich werde also bis an mein Lebensende schreiben und so viele Geschichten wie möglich zu Papier bringen. Für mich existiert kein konkretes Ziel, kein definitorischer Punkt, an dem ich meine schreiberische Tätigkeit als erfüllt betrachten könnte. Aber mein unmittelbarer nächster Schritt wäre die Veröffentlichung eines ausgewachsenen Romans bei einem Verlag.

Der Blogring - Vorstellung Lysander oder Ingo schreibt anders

Ingo S. Anders – der Name ist Programm: Ingo schreibt anders.
Kurze Geschichten schreibt der 1980 geborene ehemalige Verwaltungsfachangestellte seit 2006. Mit »Tobaksplitter – Facetten meiner Persönlichkeit« debütiert er mit einer Auswahl daraus.
Schwul, trans* und bipolar ist Ingo. Aber kein Mörder …


So oder so ähnlich beschreibt er sich in seiner Vita. Aber hier stellt er sich euch selbst vor:

Es gab einen verhängnisvollen Aufsatz, den ich im Grundschulalter über die Winterferien schreiben durfte. Ich kritzelte voller Begeisterung fünf DIN-A5-Seiten in meiner Kinderkrakelschrift über den Weihnachtsmann, Wichtel und Rentiere, doch in der Schule durfte ich meine Geschichte nicht zu Ende vorlesen – die Leehrkraft unterbrach mich rüde mit der Behauptung, ich hätte aus einem Buch abgeschrieben.

Das machte meine Mutter so wütend, dass sie mein Werk ohne mein Wissen an unsere Tageszeitung schickte, wo es im darauffolgenden Advent neben den Weihnachtsgeschichten anderer Kinder abgedruckt wurde. So geriet ich unschuldig in die Situation, ein veröffentlichter Autor zu sein.

Dabei blieb es nicht …
Da es sich beim Schreiben aber um eine brotlose Kunst handelt, ging auch bei mir zunächst der Broterwerb vor, doch mit Mitte zwanzig platzte irgendwo in mir das Tintenfass. Ich schlug mir die Nächte um die Ohren, um zu schreiben, und konnte einfach nicht aufhören. Es entstanden unzählige Kurzgeschichten und auch Lyrisches, manche Werke mag ich heute noch sehr.
Irgendwann reichte es mir nicht mehr, meine Ergüsse brühwarm an den Leser zu bringen. Ich wollte mich mit anderen Schreibenden messen und nahm an Schreibwettbewerben teil.

Ich wollte wissen, ob ich druckreif schreibe. Diesmal fragte ich die Regionalzeitung selbst an und ja – ich wurde gedruckt und erhielt sogar ein Honorar.
Unterdessen gewann ich einen der Wettbewerbe und las in Innsbruck. War das aufregend! Wieder erhielt ich ein Honorar – ein Jahreseinkommen von 100 Euro, Wahnsinn!

Nun formte sich so langsam der Wunsch, auch einmal ein Buch zu schreiben. Ich stürzte mich ins Selbststudium des Schreibhandwerks und fand im Schreib-Forum tapfere Feedbackgeber, denen ich so viel zu verdanken habe und gar nicht genug zurückgeben kann.
Auch wenn ich handwerklich noch lange nicht perfekt bin, so finde ich doch immer ausreichend Motivation, bei der Stange zu bleiben und habe inzwischen den Langstreckensieg geschafft: Ich habe die Rohfassung meines ersten Romans abgeschlossen.

Tobaksplitter – Facetten meiner Persönlichkeit
Mit einer Sammlung kurzer Geschichten habe ich debütiert.

Und ich habe mich total gefreut, als mein Buch im tiefgang, dem Kulturfeuilleton für den Hamburger Süden, besprochen wurde. :)))

Ingos Blog. (Link: http://ingoschreibtanders.blog/) Folgt Ingo S. Anders auch auf Instagram! (Link: https://www.instagram.com/ingos.anders/)

Der Blogring - Vorstellung Bess _ www.bessassin.com

Heute stellt sich Fantasy-Autorin und stolze Mitbegründerin des Blogrings Bernadette „Bess“ Klein vor.
Bess gehört zu den Leuten, die schon Gedichte erdachten, bevor sie das Alphabet beherrschten, zum Leidwesen ihrer Mutter, die sie für sie niederschreiben musste. Glücklicherweise ließen die eigenen Schreibkenntnisse nicht lange auf sich warten, sodass sie im stolzen Alter von sieben Jahren ihren ersten Gedichtband herausbrachte – mit dem Nadeldrucker des Onkels auf Endlospapier gebannt und liebevoll mit Filzstift coloriert – jedoch leider irgendwann bei einer Aufräumaktion verschollen. Gedichte reichten dem fantasievollen Kind bald nicht mehr, sodass mit zwölf Jahren der erste Roman in Angriff genommen – und bis heute nicht fertiggestellt wurde. Bei der Abiturverleihung sagte der Deutschlehrer mit einem ernsten Lächeln: „Und Sie veröffentlichen mal ein Buch. Aber unter ihrem richtigen Namen, damit ich es auch auf der Bestsellerliste erkenne.“

Ob der Deutschlehrer heute, zwanzig Jahre später, noch praktiziert, steht zu bezweifeln, aber seine Worte wirken bis heute nach. Wann Bess einmal ein Buch veröffentlicht, dass inzwischen selbst unter ihrem richtigen Namen herausgegeben aufgrund Eheschließung dem Deutschlehrer wohl nicht auf der Bestenliste auffallen würde, steht noch in den Sternen. Da jedoch das Manuskript zum Portal-/Urban-Fantasy-Roman „Seelenschulden“ bereits fertiggestellt und von einer erfahrenen Lektorin und Phantastik-Preisträgerin für gut befunden wurde, dürften die Sterne wohl 2023 oder 2024 voraussagen.

Fragt man Bess, wo sie sich in zehn Jahren sieht, ist die Antwort klar: Vielleicht nicht auf der Bestsellerliste, aber ganz sicher auf der Bess-Seller-Liste. Ihr wichtigstes Ziel hat sie bereits erreicht – einer ihrer Romane hat einen Menschen glücklich gemacht. Und was einen Menschen glücklich macht, macht statistisch gesehen sieben Millionen weitere glücklich. Jetzt muss sie sie nur noch finden …

Wer mehr über Bess erfahren möchte oder sich für eine Leseprobe von „Seelenschulden“ interessiert, findet all das und noch mehr auf bessassin.com.

Der Blogring - Die neue Vernetzung

In diesem Bereich sind zu den einzelnen Mitgliedern des Blogrings nicht nur deren Vorstellungen zu finden. Im Verlauf der Zeit werden noch weitere Beiträge folgen, die von allen Teilnehmenden auch geteilt werden.
Da wir untereinander auch verlinkt sind, kann dann auch unabhängig in den anderen Blogs und Homepages gerne gestöbert werden.